Was will die Kirche in der Schule?

Interview mit Bildungsdezernentin Dr. Gudrun Neebe und Schulreferent Dr. Michael Dorhs über die Chancen und Grenzen des evangelischen Religionsunterrichts

Wir leben in einem säkularen Staat. Was will die Kirche in der Schule?

Gudrun Neebe: Religionsunterricht ist keine kirchliche Veranstaltung in der Schule, sondern ein ordentliches Lehrfach – erteilt in gemeinsamer Verantwortung von Staat und Kirche. Wir sind als Kirche präsent über Schulseelsorge, schulbezogene Jugendarbeit oder Schulgottesdienste. Aber es wäre ein Missverständnis, zu meinen, Religionsunterricht sei gleichbedeutend mit „Kirche in der Schule”.

Michael Dorhs: Auch die EKD-Denkschriften von 1994 und 2014 betonen, dass der Religionsunterricht ein normales Schulfach ist, das sich vom Bildungsauftrag der Schule her versteht und einen wichtigen Beitrag in der multireligiösen Gesellschaft leisten kann.

Trotzdem erhofft sich die Kirche doch etwas vom Religionsunterricht.

Neebe: Na klar: religiöse und ethische Bildung! Aber es ist eben keine Glaubensvermittlung, sondern es geht um Urteilsfähigkeit, Orientierung, um existenzielle Fragen. Der Staat räumt allen Religionsgemeinschaften gleiche Rechte ein. Deswegen gibt es auch Ethik und islamischen Religionsunterricht. So kann man dem Vorurteil begegnen, Religionsunterricht sei „Kirche in der Schule”.

Dorhs: Natürlich sind die Pfarrer und Lehrer, die evangelischen Religionsunterricht erteilen, keine neutralen Wesen. Sie haben eine kirchliche Bevollmächtigung, die „Vokatio”. Und sie unterrichten von ihrer eigenen evangelischen Position her. Das ist vom Gesetzgeber so gewollt, denn wir haben ja nicht das Fach „Religion”, sondern es gibt Religionsunterricht nur in konfessioneller Gestaltung.

Warum hält der Staat am konfessionellen Religionsunterricht fest?

Dorhs: Im Grundgesetz ist das in Artikel 7,3 so festgelegt, und in der hessischen Verfassung, Artikel 57, ebenfalls. Aber das ist natürlich nur die formale Begründung. Inhaltlich sage ich: Wenn man ein Interesse daran hat, dass Schüler im Rahmen ihrer persönlichen Entwicklung urteilsfähig werden und eine eigene Position entwickeln, dann brauchen sie ein positionelles Gegenüber, um selbst einen klaren Standpunkt beziehen zu können. Das passiert in der Auseinandersetzung mit dem Lehrer, der selbst eine Position vertritt.

Wäre nicht trotzdem ein christlich-ökumenischer Unterricht angesagt?

Neebe: Kirchen und Religionsgemeinschaften gibt es immer nur in bestimmten konfessionellen Ausprägungen. Und deswegen gibt es eben auch keinen allgemein christlichen oder ökumenischen Religionsunterricht. Aber sehr wohl gibt es gelingende konfessionelle Kooperation. Die EKD-Denkschrift empfiehlt, stärker auf konfessionelle Kooperation zuzugehen, und das jüngst erschienene Papier der Deutschen katholischen Bischofskonferenz unterstützt dies sehr.

Wie sieht die konfessionelle Kooperation in der Praxis aus?

Neebe: In einigen Gesamtschulen gibt es Pilotprojekte: Besonders bei großen Lerngruppen bietet sich Team-Teaching an – mit zwei Lehrkräften in der Klasse. Oder es kann in Intervallen unterrichtet werden, sodass sich evangelische und katholische Lehrer abwechseln. Zu all dem ist aber entsprechende Fortbildung nötig, damit die Lehrkräfte konfessionssensibel unterrichten. Ganz neu in Hessen ist übrigens eine Fortbildung für die Kooperation von evangelischem, katholischem und muslimischem Religionsunterricht.

Funktioniert das gut?

Dorhs: Die evangelische Kirche unterstützt die Einführung eines bekenntnisgebundenen islamischen Religionsunterrichts in hessischen Schulen. Denn er hilft jungen Muslimen, sich mit ihren eigenen Überzeugungen und denen der anderen kritisch auseinanderzusetzen, und das im Rahmen staatlich genehmigter Lehrpläne und im Gegenüber zu einer an einer deutschen Universität ausgebildeten muslimischen Religionslehrkraft. Das ist für viele noch ungewohnt, aber es ist ein Lernprozess, der sich lohnt. Ich plädiere für Gelassenheit und einen langen Atem.

Religionslehrer können ja nicht einfach unterrichten, was sie wollen. Wie weit reicht das Spektrum?

Neebe: Im Moment wird diskutiert, ob eine „Verreligionskundlichung” oder eine „Versachkundlichung” des Religionsunterrichts stattfindet. Ich halte beides nicht für wünschenswert. Andererseits kann ich aus dem Religions- aber auch keinen Konfirmandenunterricht machen. Die didaktische Frage,  inwieweit religiöse Praxis im Unterricht vorkommen kann, muss man gut reflektieren. Jugendliche müssen Elemente religiöser Praxis kennenlernen, aber der Religionsunterricht darf nicht zu einer gottesdienstlichen Veranstaltung umfunktioniert werden.

Dorhs: Richtig verstanden, ist religiöse Bildung extrem lebenspraktisch. Denken Sie nur an ethische Themen wie Sterbehilfe oder pränatale Diagnostik. Allerdings gehört die Auseinandersetzung mit biblischen Geschichten und der jüdisch-christlichen Tradition für mich zur Allgemeinbildung. Da haben die Unterrichtenden auch eine „Bringschuld“ gegenüber den Schülern. Aber alles, was eher in Politik oder Sozialkunde gehört, sollte auch da bleiben.

Wo sehen Sie in Zukunft die größten Herausforderungen für den Religionsunterricht?

Neebe: Jüngste empirische Untersuchungen zeigen, dass sich Jugendliche wie auch Erwachsene die Fragen stellen: Wozu ist es gut, wenn ich mich mit religiösen Fragen auseinandersetze? Was bringt mir eine Kirchen-Mitgliedschaft, wenn ich ja doch nicht hingehe? Wir müssen die Fragen, die Jugendliche oder auch Erwachsene haben, aufspüren und mit unseren Botschaften in Bezug setzen, um dann relevante Antworten zu geben. Und zweitens müssen wir dialogfähiger werden. Das ist gerade in einer Zuzugs-Gesellschaft Aufgabe des Religionsunterrichts: Akzeptanz und Respekt zu lehren. Und natürlich ist es wichtig, sich ganz schlicht Wissen über andere Religionen anzueignen. Die konfessionelle Kooperation haben wir bereits erwähnt. Da bin ich sehr froh, dass sich die katholische Kirche bewegt hat und wir künftig noch stärker Gemeinsamkeiten entdecken werden.

Welche Konsequenzen hätte es, wenn es irgendwann keinen Religionsunterricht mehr gäbe?

Dorhs: In Frankreich, wo man das absolute Gegenmodell zu uns fährt, kann man das studieren. Dort herrscht Laizismus, Religion hat im öffentlichen Raum, und damit auch in den Schulen, nichts verloren. Sie können dort beobachten, dass religiöse Bildung nur noch in ganz kleinen Rudimenten geschieht. Das Dechiffrieren von religiösen Äußerungen, ob in Bildern oder in der Literatur, ist vielfach nicht mehr möglich. Anspielungen auf biblische Inhalte werden nicht verstanden. Und religiöse Unbildung hat auch Auswirkungen auf das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen und Überzeugungen. Die Konfrontation zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen ist in Frankreich viel stärker ausgeprägt als bei uns. Wir können froh sein, dass wir den Religionsunterricht als institutionelle Einrichtung haben, weil das zumindest potenziell ein Raum ist, in dem man Dialog- und Pluralitätsfähigkeit einüben kann, Verständnis füreinander und auch Kenntnis voneinander. Überspitzt gesagt: Wenn man den Religionsunterricht nicht hätte, man müsste ihn erfinden. Es wäre ein großer Verlust für unsere Gesellschaft, wenn dieser Raum nicht mehr existieren würde. Andere beneiden uns um ihn.

Wird es in 20 Jahren noch „Reli” an unseren Schulen geben?

Neebe: Ich denke schon, aber in einer veränderten Gestalt. Religion muss sehr viel flexibler unterrichtet werden, viel voraussetzungsärmer, damit man auch konfessionslosen, aber doch interessierten Kindern und Jugendlichen ein Angebot machen kann. Sie müssen willkommen geheißen werden und mitkriegen: Hier erfahre ich relevante Dinge für mein Leben. Und wer in der Schule schon mal positiven Kontakt mit Religion hatte, will später vielleicht doch mehr und kommt auch zur Kirche.

Vielen Dank für das Gespräch.

Fragen: Lothar Simmank, Olaf Dellit

Erstveröffentlichung: „blick in die kirche“ 2/2017, S. 6f.