Debattieren über den Sinn des Menschseins
„Machst du so etwas eigentlich gerne?“ Die Frage trifft mich wie ein Keulenschlag. Eine Abiturientin ist mit dem Auto tödlich verunglückt. Hunderte Schüler stehen unter Schock, weinen, schreiben Abschiedsbriefe. Ob ich gerne als Pfarrerin für einen Gott stehe, der sinnlos ein Mädchen aus unserer Mitte reißt? Nein, ich mache so etwas nicht gerne! Ich bin wütend und erschöpft. Aber doch, ich mache so etwas gerne! Es ist so wichtig, in diesem Moment nicht selbst in Panik zu erstarren, sondern Kollegen anzuleiten, Schülerinnen und Schüler zu trösten, mit ihnen eine Trauerfeier in der Schule zu entwerfen und zu beten.
Unterricht zum Thema „Theodizee“ im Abiturjahrgang. Eine Schülerin verlässt weinend den Raum. Ihre Mutter ist vor einigen Jahren gestorben. Immer hat die Tochter es verdrängt. Jetzt endlich nimmt sie sich die Zeit. Wir versuchen gemeinsam, die Trauer zu beleuchten, sie zu „zähmen“. Die systemische Ausbildung als Schulseelsorgerin ist mir dabei ein wertvolles Handwerkszeug. Trauerverarbeitung, Umgang mit suchtkranken Eltern, Redeangst, schwierige Liebesbeziehungen – die Themen sind vielfältig, und das Vertrauen der Ratsuchenden ist oft erstaunlich. Ich glaube nicht, dass es ihnen ebenso leicht gefallen wäre, außerhalb des gewohnten Lebensraums „Schule“ die Schwelle zu einer anonymen Beratungsinstitution zu überwinden.
„Früher mochte ich Religion nicht so – aber bei Ihnen habe ich richtig über mein Leben nachgedacht“, sagt eine Abiturientin zum Abschied. In einer wirtschaftlich ausgerichteten Oberstufenschule trete ich dafür ein, dass Menschlichkeit und Orientierung im Blick bleiben. Viele Kollegen betonen, dass wir eine „säkulare Schule“ sind. Schüler für einen Abiturgottesdienst zu gewinnen, kann daher eine echte Herausforderung sein. Es gilt, offen zu sein für ihre eigenen Ideen und ihre Sprache – und ihr bisweilen chaotisches Terminmanagement. Persönliche Beziehungen helfen, sie zu motivieren, sich mutig vor die Schülerschaft zu stellen und als „christlich“ zu outen.
Im Kollegium und in der Schülerschaft vertreten viele die Ansicht, dass Religion „Privatsache“ und ohnehin völlig irrelevant und rückständig ist. Meine Überzeugung ist hingegen, dass zu einem vernünftigen Handeln die Rechenschaft über die eigene Weltanschauung (also über Sinn und Ziel des Menschseins) gehört und dass darüber zu debattieren ist. Diese Haltung bringe ich in den Unterricht und in das Kollegium und die Schulentwicklung ein.
Als Schulpfarrerin setze ich also erstens in seelsorgerlicher Beratung das diakonische Anliegen der Kirche im Lebensraum Schule um und trage zweitens zur Bildung im Sinne der „Herzensbildung“ bei – sowohl bei einzelnen Schülern, als auch im System Schule, als auch im weltanschaulich- gesellschaftlichen Diskurs.
Anneruth Heinz, Schulpfarrerin an der Modellschule Obersberg in Bad Hersfeld